Europa der Regionen 

Die Forderung nach mehr Kompetenzen für die Kommunen könnte auch mit der Bewegung für ein Europa der Regionen verknüpft werden. Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems, wagt den Traum von der Überwindung der Nationalstaaten und einer europäischen Republik, die dezentral, demokratisch und sozial sein soll. Ein Europa der Regionen soll bis 2045 geschaffen werden. Sie zitiert Robert Menasse: “Heimat ist Region. Nation ist Fiktion.” In ihrem Buch “Warum Europa eine Republik werden muss“ beschreibt sie die derzeitige Verfassung der Europäischen Union treffend wie folgt:

“Eine angebotsorientierte, um nicht zu sagen neoliberale Marktordnung hat sich verselbstständigt und wurde de facto fern jeder demokratischen Gesetzgebung in europäisches Verfassungsrecht gegossen. Das hat sie quasi irreversibel gemacht. Eine Brüsseler Institutionen-Trilogie, bestehend aus Rat, Parlament und Kommission, befasst sich vorwiegend mit sich selbst und ist nicht nach dem Prinzip der Gewaltenteilung organisiert. Die Bürger Europas sind nicht gleich vor dem Recht und werden ungleich besteuert. Der bürgerliche Gleichheitsgrundsatz, der fundamental, ja konstitutiv für jede politische Einheit ist, wird innerhalb der EU national durchbrochen. Das Europäische Parlament hat kein Initiativrecht und bietet keine Wahlrechtsgleichheit. Denn beim Wahlakt der europäischen Legislative sind die europäischen Bürger nicht gleich. Beides ist ein Frontalangriff auf die Demokratie in Europa: Ohne politische und bürgerliche Gleichheit kein funktionierender Parlamentarismus. Die Kommission ist zugleich Exekutive und Hüterin der Vertrāge, eine Aufgabe, die normalerweise einem Gerichtshof zukommt. Ein Europäischer Rat mit nur indirekter Legitimität blockiert systematisch Entscheidungen, die im Interesse aller europäischen Bürger sind, und verhandelt die bevorzugten Interessen einzelner Mitgliedstaaten,  meistens der mächtigen, sofern er überhaupt entscheidungsfähig ist.”

Sie beklagt, dass die politische Mitte nicht in der Lage oder willens sei, die EU als eine Vergewaltigung der Demokratie anzuprangern.

Eine Idee, wer die treibende Kraft für das neue Europa der europäischen Regionen und Städte sein soll, hat sie nicht. Auf die Jugend setzt sie nur eingeschränkt:

“Diese Jugend experimentiert mit Demokratie, anstatt sie zu formalisieren. Institutionen waren gestern, politische Bündelung wird nicht gesucht. In diesem Sinne sind sie auch post-power, sie suchen nicht die Macht, sie sind die Kinder des Poststrukturalismus. Zwanzig Jahre poststrukturalistische Sozialwissenschaften haben diesen Sprösslingen der modernen Universitäten beigebracht, dass Macht diffus ist, Hierarchien autoritär und Institutionen träge. Sie haben es gelernt und leben es jetzt. Sie zahlen einen hohen Preis dafür: Bei allem bewundernswerten Engagement, bei aller faszinierenden Kreativität, bei aller herausragenden Qualifikation kriegen sie nicht die politische Macht, sie erreichen nicht die Steuerknüppel des Systems. Während diese Jugendlichen Projekte machen, rocken Frauke Petry und Marine Le Pen die öffentlichen Plätze und bekommen immer mehr verstohlene Stimmen der klandestinen Bürger, auch wenn nicht alle dort demonstrieren… 

Europa hat seine Jugend also gleich in doppelter Weise verloren. Der sozial schwächere, bildungsfernere (und meistens männliche) Teil, vor allem auf dem Land, wendet sich von Europa ab, weil es inzwischen wieder griffige nationale Erzählungen und entsprechende Wahlangebote gibt. Die von EU-Brüssel verlassene Erasmus-Jugend kämpft mit nationalen Bürokratiegrenzen, die ihren eigenen europäischen Lebensalltag einschränken, außerdem wendet sie sich gegen die undemokratischen und unsozialen Governance-Strukturen der EU. Auf dem letzten EU-Gipfel im Frühjahr 2016 wandte sich dieser Erasmus-Teil der Jugend fast verzweifelt mit Spruchbändern und twitter-hashtags an die EU- Verantwortlichen: »#Keep our Europe and our Future united«. 

Dazu haben die meisten ob ihres kosmopolitischen Lebensstils und Studiums keine Lust, in nationale Behörden, Ministerien oder gar in die nationale Politik zu gehen. Dort tummeln sich in Frankreich die Absolventen der nationalen Elitehochschulen und in Deutschland eher die Absolventen einer Verwaltungshochschule aus Speyer, einer Privatuni Witten-Herdecke oder einer Hertie School of Governance, die auf ein nationales Beamtenticket setzen. Diese Leute, und nicht die deutschen LSE-Absolventen, sitzen dann für Deutschland in einem Vorbereitungstreffen für den EU- Ministerrat oder machen im Ministerium die Arbeitsvorlage für ein europäisches Ratstreffen, orientiert an deutschen Interessen natürlich. Die Enteuropäisierung auch in deutschen höheren Amtstuben ist über die letzten zwanzig Jahre geradezu mit Händen zu greifen und wird inzwischen hinter vorgehaltener Hand eingestanden.

Die Erasmus-Jugend hat mithin kaum eine Chance, ein anderes Europa zu machen, einen europäischen Staat zu gestalten (und eine Europäische RePublik schon gar nicht). Sie hat keinen Zutritt zum politischen Maschinenraum, in dem sie etwas ändern könnte für die Altersgenossen – die Kevins und die Charlottes ihrer Generation. Jede Politik ist elitär: die USA, Großbritannien oder Frankreich werden ganz und gar von den Absolventen ihrer jeweiligen Eliteuniversitäten regiert. Elitär darf der Politikbetrieb, ja sollte er sogar sein, nämlich im Sinne von »guten Leuten«, die regieren. Nur elitistisch im Sinne von selbstreferenziell und sich-selbst- bedienend darf Politik nicht sein. Doch genau das ist heute das Problem der »liberalen Mitte« EU-Europas. Die EU ist in diesem Sinne leider immer weniger elitär, aber immer mehr elitistisch. Und nach jahrelangen Diskussionen über Europa als Elitenprojekt und die Empörung darüber werden wir vielleicht bald bedauern, dass wir keine Eliten mehr für Europa haben und ganz andere dort regieren! Das historische Subjekt für ein anderes Europa ist also demographisch und strukturell entmachtet. Wir müssen der europäischen Jugend auch dadurch helfen, dass wir Europa für sie wieder attraktiv machen!”

Vielleicht kann aus demokratisch legitimierten jungen Menschen, die Selbstverwaltung leben und für mehr Rechte ihrer Regionen kämpfen, das politische Subjekt für ein anderes Europa werden.

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