Dezentralisierung und Dekonzentration der Verwaltung in Europa

Stark vereinfacht unterscheidet die vergleichende Verwaltungswissenschaft zwischen echter und unechter Kommunalisierung von Verwaltungszuständigkeiten. Ein wichtiges Unterscheidungskriterium ist die Zuständigkeit innerhalb der Kommune, d.h. ob, wie bei der echten Kommunalisierung, die Kommunalvertretung (Stadtrat) oder allein die Exekutive der Kommune (Bürgermeister) zuständig und verantwortlich ist. Als Lackmustest für die Unterscheidung der beiden Aufgabentypen kann das Baugenehmigungsverfahren gelten. Während es sich im monistischen Modell um eine echte kommunale Aufgabe handelt, die letztlich von der Gemeindevertretung zu entscheiden ist, gehört die Baugenehmigung im dualistischen Modell zu den übertragenen Aufgaben, die von der Gemeindeexekutive (unter Ausschluss der Gemeindevertretung) zu erfüllen sind.

Im ersten Lehrbuch zur vergleichenden Verwaltungswissenschaft aus dem Jahr 2013 von Sabine Kuhlmann, Professorin für Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Potsdam, und Prof. em. Dr. Hellmut Wollmann, ehemaliger Professor für Verwaltungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, wird nach einem Vergleich der Dezentralisierung von Verwaltungskompetenzen in Frankreich, Italien, Ungarn, England, Schweden und Deutschland folgendes Zwischenfazit gezogen:

“Dezentralisierung und Kommunalisierung stellen europaweite Trends der Verwaltungsreform dar. Lediglich im Vereinigten Königreich (England) sowie in jüngster Zeit in Ungarn kam es zu markant re-zentralisierenden Tendenzen im Verhältnis zwischen staatlicher und kommunaler Ebene. In der Grundtendenz läuft die Verwaltungsentwicklung im europäischen Raum somit darauf hinaus, dass die kommunalen Gebietskörperschaften an Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten gewinnen und der Staat Funktionen “nach unten abgibt”. …. Allerdings unterscheiden sich der Modus und die Wirkungen der Dezentralisierung/Kommunalisierung erheblich. Während in Schweden umfassend politisch dezentralisiert und das monistische Aufgabenmodell weiter gestärkt wurde, kam es in Deutschland mit den neuen Verwaltungsstruktur- und Funktionalreformen überwiegend ,,nur“ zur administrativen Dezentralisierung und “unechten“ Kommunalisierung, durch die das traditionelle dualistische Aufgabenmodell weiter bekräftigt wurde. Außerdem drohen in dem Maße, wie der Anteil der übertragenen Aufgaben im Funktionalprofil der Kommunen weiter zunimmt, im Innenverhältnis die gewählten Vertretungen weiter an Einfluss gegenüber der kommunalen Exekutive zu verlieren und im Außenverhältnis die Kommunalverwaltungen noch stärker unter die staatliche (Fach-)Aufsicht zu geraten und im gewissen Sinne zu ,,verstaatlichen“. Allerdings bergen die Übertragung weiterer staatlicher Aufgaben auf die Kommunen und damit die Erweiterung des kommunalen Aufgabenprofils auch das Potenzial einer fortschreitenden Kommunalisierung von staatlichen Aufgaben. Denn die Tatsache, dass die Ausführung dieser Aufgaben in Deutschland bei einem direkt gewählten Bürgermeister bzw. Landrat liegt und dass dieser – ungeachtet der staatlichen Fachaufsicht und Einwirkung – stark in den kommunalpolitischen Kontext eingebunden ist, kann einer politischen Kommunalisierung Vorschub leisten. Auch Frankreich und Italien, die einschneidende Schritte der politischen Dezentralisierung kodifizierten, halten nach wie vor grundsätzlich am dualen Aufgabenmodell fest und weisen eine starke Persistenz staatlicher Verwaltung in der Fläche auf, wenngleich die Staatsaufsicht inzwischen erheblich abgeschwächt wurde.”

Für die Idee der Schule der Demokratie ziehe ich aus dieser Zusammenfassung die Erkenntnis, dass in einem Prozess zur Demokratisierung der Demokratien die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung in einem europäischen Trend liegt. Es ist bezeichnend, dass Ungarn als erklärte illiberale Demokratie diesem Trend nicht folgt. Dezentralisierung von Verwaltungszuständigkeit und Stärkung der kommunale Selbstverwaltung sind unterschiedliche Prozesse. Allein Dezentralisierung bedeutet keine Übertragung von politischer Macht nach unten.  Vor Ort stehen zwischen der echten und unechten kommunalen Selbstverwaltung die Bürgermeister in ihrer Doppelrolle als Vorsitzende des Stadtrates und als Dienstherr der hauptamtlichen Verwaltung. Der Auseinandersetzung um die Köpfe der Bürgermeister und Landräte kommt bei der Förderung der echten Kommunalisierung eine große Bedeutung zu. 

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