“Die Geschichte der westlichen Gesellschaften ist eine Geschichte des Strebens nach Teilhabe, und kaum hat eine Gruppe der Gesellschaft ihre Rechtlosigkeit überwunden und für sich ein höheres Maß der Partizipation erreicht, zieht die nächste schon nach. So klettern aus dem Heer der Untertanen einer nach dem anderen, wie auf einer großen Sprossenleiter, in Richtung des demokratischen Olympus. Die gebildeten Stände folgten dem Adel, sowie die einst die unterprivilegierten Handwerker und Bauern dem Bürgertum, bis schließlich auch die Legionen der rechtlosen Fabrik- und Minenarbeiter das Wahlrecht für sich erkämpft hatten; die einst stimmrechtslosen Frauen folgten den Männern, die vom Wahlprozess zunächst ausgeschlossen Schwarzen den Weißen, bis auch die Jugendlichen mit der Herabsetzung des Mindestalters an den demokratischen Prozeduren beteiligt wurden” (Steingart aaO).
Wenn es gelänge, die Erzählung von der Schule der Demokratie in diese oder eine ähnliche Aufzählung schlüssig einzuordnen, würde sie enorm an Kraft gewinnen. Nach Alice Schwarzer ist der Erfolg der Frauenbewegung auch darauf zurückzuführen, dass es gelungen ist, einen historischen Bezug herzustellen. In ihrer Zeitschrift Emma gibt es deshalb die Rubrik „Schwestern von gestern“.
Aber es ist nicht so einfach, einen historischen Bezug herzustellen. Die Schule der Demokratie steht für mehr Partizipation und eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung (Subsidiaritätsprinzip, Dezentralisierung politischer Verwaltungsmacht) und nicht für die Interessen einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe. Bei der Partizipation geht es darum, mehr junge Menschen an der politischen Willensbildung auf kommunaler Ebene zu beteiligen und allen Bürgern mehr Einfluss auf die Förderung des politischen Nachwuchses zu geben. Die Bürger wollen nicht mehr nur ein Kreuz auf einem Wahlzettel machen, sondern mehr Einfluss darauf nehmen, welche Kandidaten zur Wahl stehen. Beide Partizipationsforderungen erscheinen mir zu marginal, um sie in einen historischen Kontext einordnen zu können.
Anders verhält es sich mit der Forderung nach mehr kommunaler Selbstverwaltung. Dahinter steht die Forderung nach einer Dezentralisierung politischer Verwaltungsmacht. Der Begriff “Schule der Demokratie” kann auch zum Ausdruck bringen, dass die Demokratie selbst lokale Räume braucht, um gesellschaftlichen Fortschritt experimentell zu erproben. Dafür brauchen die Kommunen mehr Kompetenzen.
Das Subsidiaritätsprinzip ist kein Selbstzweck, sondern in den europäischen Verträgen verankert. Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass eine höhere staatliche Ebene nicht für Aufgaben zuständig sein soll, die auch von einer niedrigeren Ebene wahrgenommen werden können. Dieses Prinzip gibt der Dezentralisierung staatlicher Verwaltung den Vorrang, weil man davon ausgeht, dass erstens die Menschen auf der unteren Ebene kompetenter sind als die über ihnen, weil sie die Verhältnisse vor Ort besser kennen, und zweitens die Selbstverwaltung der Bürger zu einer stärkeren Identifikation mit ihrem Staat führt. Kurz: Dezentralisierung soll dazu führen, dass dem Gemeinwohl auf Seiten der Repräsentanten durch mehr Kompetenz und auf Seiten der Repräsentierten durch mehr Identifikation besser gedient wird.
Die positiven Wirkungen des Subsidiaritätsprinzips waren schon den alten Preußen bekannt, als König Friedrich Wilhelm III. mit der Städteordnung vom 19. November 1808 die kommunale Selbstverwaltung kodifizierte. Gedemütigt durch die französischen Eroberungskriege und bedroht von den Ideen der Französischen Revolution, sahen sich die preußischen Herrscher zu Glasnost und Perestroika gezwungen. “Eine effiziente Verwaltung sollte dazu beitragen, die machtpolitische Bedeutung Preußens durch aktive Einbeziehung der Gesellschaft zu stärken. Aufgabe der Selbstverwaltung in den Provinzen, Kreisen und Städten war es, „den Gemeinsinn und Bürgersinn zu beleben, die schlummernden und fehlgeleiteten Kräfte und zerstreuten Kenntnisse zu nutzen, …”. (aus der Nassauer Denkschrift).
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewannen die liberalen Reformen von 1848 im Zuge der Industrialisierung, der sozialen Mobilisierung und der deutschen Nationalstaatsbildung zunehmend Einfluss auf die Modernisierung der kommunalen Selbstverwaltung.
Am weitesten wurden die Reformen am Ende des 19. Jahrhunderts durch den liberalen Staatsrechtler, Berliner Stadtverordneten und späteren „Vater“ der Weimarer Verfassung Hugo Preuß (1860 – 1925) und den Nationalökonomen und sozialdemokratischen Landtags- und Reichstagsabgeordneten Hugo Lindemann (1867 – 1949) entwickelt. Preuß und Lindemann strebten keine Ausweitung der Verwaltungskompetenz an, sondern sprachen sich vehement für eine Stärkung der parlamentarisch-demokratischen Formen der Selbstverwaltung aus.
Preuß schloss kritisch an die Ideen der Französischen Revolution an und forderte, „dass man die Freiheit nicht mehr in der Proklamierung imaginärer Rechte, sondern in der selbsttätigen Übernahme staatlicher Arbeit, in der immer ausgedehnteren Selbstverwaltung erblicke“. Lindemann orientierte sich an der englischen Kommunalpolitik und sah mit Preuß im „Local-Government“ und im „englischen Munizipalsozialismus“ die Selbstverwaltung durch die Schaffung kommunaler Versorgungsunternehmen, wie Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerken weitaus besser verwirklicht als im deutschen Kaiserreich. Lindemann und Preuß zielten im Rahmen ihres sozialreformerischen Denkens auf eine Demokratisierung der kommunalen Verwaltung und eine Weiterentwicklung der Selbstverwaltungsidee. Sie traten für eine Ausweitung der kommunalen Hoheitsrechte und eine Einbeziehung der gesamten Einwohnergemeinde in die Geschäfte der Gemeinde im Sinne einer „Parlamentarisierung von unten“ ein (Wikipedia).
Wenn man also eine erweiterte kommunale Selbstverwaltung als Freiheitsrecht versteht, dann könnten die jungen Ratsmitglieder als moderne Freiheitskämpfer bezeichnet werden, die für eine Parlamentarisierung der Bürokratie stehen.
Ich bin kein Historiker, aber der Grund, warum die kommunale Selbstverwaltung nicht weiter ausgebaut wurde, liegt sicher nicht darin, dass sich das Subsidiaritätsprinzip in der Praxis durchgesetzt hätte, dass die Kommunen das Optimum an unabhängiger Selbstverwaltung erreicht hätten oder dass auf den höheren staatlichen Verwaltungsebenen eine so gute Politik gemacht würde, dass Veränderungen nicht notwendig wären. Ich sehe, ehrlich gesagt, kein einziges politisches Handlungsfeld, das aus meiner Sicht zukunftsfähig wäre. Auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene sehe ich nur politisches Personal, das mit der Bewältigung der globalen Probleme völlig überfordert ist.
Auf kommunaler Ebene fehlt die Anerkennung als staatliche Handlungsebene, das Geld und die Kompetenz, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Vor allem fehlt das Vertrauen der Autoritäten, dass die Menschen vor Ort in der Lage sind, ihre Probleme selbst zu lösen. Vermutlich wird auch die Dezentralisierung politischer Macht als Wachstumshindernis gesehen.
Ich vermute, dass der Einfluss der Parteipolitik in den Rathäusern ein wesentlicher Grund dafür ist, dass sich die kommunale Selbstverwaltung nicht wesentlich weiterentwickelt hat.Die Demokratisierung der Städte ist zwar historisch ohne die Arbeiterbewegung und die politischen Parteien nicht denkbar. Erst mit ihnen wurde dem Ständedünkel ein Ende gesetzt. Heute müssen wir aber leider feststellen, dass die Parteipolitik die Demokratie in den Grundfesten unseres Staatsaufbaus gefährdet, weil sie zu einer Entkoppelung von Wählern und Volksvertretern führt.
Die Stellung in der Partei und der Besitz des richtigen Parteibuches zur richtigen Zeit entscheiden weit mehr über den Erfolg eines Kommunalpolitikers als seine Sachkompetenz. Die Wähler haben sich daran gewöhnt, nach der Farbe des Parteibuchs zu wählen. Die Grundlage für die Entscheidung, welche Farbe sie wählen, bilden die Wähler mehrheitlich aus den Informationen, die sie aus den Massenmedien erhalten. Das Problem ist aber, dass der lokale Spitzenkandidat oder der Fraktionsvorsitzende der Partei XY in der Regel noch nie im Fernsehen zu sehen war. Wie stark diese Entkopplung ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. So macht es sicherlich einen Unterschied, ob die Situation in einer Kleinstadt oder in einer Großstadt beobachtet wird. Auch die Intensität des Wahlkampfes dürfte eine Rolle spielen. Dennoch lässt sich zum Beispiel beobachten, dass die Grünen in der Universitätsstadt Münster bei den Kommunalwahlen von 2009 bis 2020 immer um die 9 Prozent über dem Landesdurchschnitt lagen. Ich glaube nicht, dass die Grünen in Münster eine so viel bessere Kommunalpolitik machen als ihre Kollegen in den Nachbarstädten ringsum. Ich glaube auch nicht, dass ausgerechnet die Studierenden den Lokalteil der Tageszeitung besonders eifrig lesen. Für mich ist diese Beobachtung ein starkes Indiz dafür, dass auch sehr viele Bildungsbürger bei Kommunalwahlen mit großer Selbstverständlichkeit nach ihren bundespolitischen Überzeugungen wählen.
Zwischen den Wahlen 1994 und 1999 sind die Grünen in meiner Heimatstadt von 7 auf 4 Sitze im Stadtrat geschrumpft. Zwischen den Wahlen lag die 10. Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Magdeburg im März 1998, auf der der so genannte „Fünf-Mark-Beschluss“ für großes Medienecho sorgte. Mit diesem Beschluss forderten die Grünen, den Preis für einen Liter Benzin schrittweise auf 5 DM anzuheben. Wenn ich mich recht erinnere, stand ich 1999 auf Listenplatz 5 der Grünen in Bad Oeynhausen. Bei der Kommunalwahl 1999 wurde nicht über die Benzinpreiserhöhung abgestimmt, trotzdem war dieses Thema im Kommunalwahlkampf sehr präsent.
Die Konsequenzen dieses Wählerverhaltens werden vielleicht deutlich, wenn man die Situation mit dem Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vergleicht. Was für ein Arbeitsergebnis ist zu erwarten, wenn der Chef verkündet, dass es ihm egal ist, was die Belegschaft so treibt. Hauptsache, alle tragen einen roten, grünen oder sonst wie gefärbten Overall.
Das sind Probleme, die wir nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten. Auch das politische System der parlamentarischen Parteiendemokratie trägt nach Arendt zur Vermassung der Menschen bei, weil es das Volk gerade nicht in den politischen Prozess einbezieht, sondern in der Gegenüberstellung von Regierenden und Regierten von der politischen Verantwortung für das Gemeinsame aller entbindet. Hier sieht Arendt Ursachen für Totalitarismus.
Natürlich gibt es immer irgendwelche Stimmungswahlen, aber auf kommunaler Ebene sind die Verhältnisse so überschaubar, dass jeder die Möglichkeit hat, sich vor Ort über die tatsächlichen Verhältnisse zu informieren und sich Gedanken zu machen. Wir müssen von uns selbst erwarten, dass wir diese Möglichkeit auch nutzen.
Die Dominanz abgehobener Parteipolitiker auf kommunaler Ebene führt meines Erachtens dazu, dass es erstens einer ambitionslosen hauptamtlichen Kommunalverwaltung allzu leicht gemacht wird, in ihrer Bequemlichkeit zu verharren, und dass zweitens den Kommunen eine parteiunabhängige Interessenvertretung fehlt, die für eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung durch Übertragung weiterer Kompetenzen kämpft.
Tatsächlich kämpft der Deutsche Städtetag gegen die Übertragung weiterer Kompetenzen auf die Kommunen, weil dieses Thema nur fiskalisch und nicht politisch gesehen wird. Deutlich wird dies z.B. in der Reaktion des Städtetages auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13.08.2020. Mehrere Kommunen hatten erfolgreich gegen den Bund geklagt, weil dieser versucht hatte, den Kommunen die Verwaltung der Bildungs- und Teilhabebedarfe von Hartz IV-Empfängern ohne klaren Kostenausgleich aufzuerlegen. Unter diesen Umständen wird in der Kompetenzerweiterung nur der Mehraufwand gesehen, der dazu führt, dass den Kommunen die Mittel für ihre kommunale Selbstverwaltung entzogen werden.
Dass die Kommunen keine starke politische Lobby haben, liegt aber nicht nur an den Parteien oder den Interessenvertretungen der Städte. Es fehlt vor allem am Interesse der Bevölkerung, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu wollen. Aber das muss nicht immer so bleiben. Anders als die revolutionäre Jugend der 68er wollen viele in der neuen Generation der Klimaaktivisten politische Lösungen nicht mehr gegen, sondern mit ihren Eltern finden. Auch sind die Eltern heute oft nicht mehr so autoritär und spießig wie früher, dass nur ein schneller Auszug aus dem Elternhaus die Möglichkeit zur Selbstfindung bietet. Natürlich gibt es immer noch das Bewusstsein, dass man sich für Provinzialität schämen muss, dass man nach dem Abitur am besten erst einmal ins Ausland geht, um den Blick von außen zu bekommen, um zu sehen, wie dumm und klein die Nachbarn doch sind. Aber das Leben in der Provinz hat auch seine Vorteile. Es ist nicht nur billiger, und geringere Kosten bedeuten mehr Freiheit. Inzwischen gibt es eine Trendwende von der Landflucht zur Stadtflucht. In der Nachbarschaft können auch Freundschaften gewachsen sein, die sich anderswo nicht so leicht wieder aufbauen lassen. Vielleicht fragt sich auch manch politisch denkender Jugendlicher, wo er mehr gebraucht wird? Ob es sinnvoll ist, sich in der Großstadt mit Gleichgesinnten zum Schulterklopfen zu verabreden, während zu Hause die Landschaft zubetoniert und das Wasserwerk verkauft wird.
Hier setzt die Idee der Schule der Demokratie an. Zum einen werden Kandidatinnen und Kandidaten ohne Parteibuch nominiert, so dass die Wählerinnen und Wähler gezwungen sind, sich wieder mit den Personen auseinanderzusetzen, die sich zur Wahl stellen. Zum anderen begleitet die Schule der Demokratie den Generationswechsel und kann so für eine gewisse Kontinuität im ehrenamtlichen (“parlamentarischen”) Teil der Kommunalpolitik sorgen. Bürgermeister und Ratsmitglieder kommen und gehen, Hauptverwaltungsbeamte bleiben oft ein Leben lang. Die Schule der Demokratie könnte hier den ehrenamtlichen, also parlamentarischen Teil der Kommunalverwaltung stärken und so dafür sorgen, dass die Verwaltungen gezwungen werden, ihre Handlungsspielräume stärker zu nutzen und mehr Risikobereitschaft zu zeigen.
Mehr dezentrale Kompetenzen müssen von denen eingefordert werden, die sie auch ausüben wollen. Die Rathäuser tun dies heute nicht oder nur sehr vereinzelt. Die Hauptverwaltungsbeamten haben gelernt, bevor sie etwas tun, zuerst im Gesetz nachzuschauen, ob sie zuständig sind. Finden sie ihre Zuständigkeit im Gesetz nicht, legen sie erleichtert den Stift aus der Hand, obwohl die politische Arbeit noch lange nicht beendet ist.
Vielleicht werden aus der Schule der Demokratie einmal Bürgermeister hervorgehen, die ihren Beamten mehr abverlangen, oder Politiker, die mehr Respekt vor der Heimat der Menschen haben als die heutigen Verkehrs- und Energiepolitiker.
Der Freiheitskampf, von dem ich spreche, untergräbt nicht das Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Er ist nicht disruptiv und kein Wasser auf die Mühlen der Antidemokraten, sondern konstruktiv für eine Erneuerung der Demokratie von unten.
Mit der Schule der Demokratie wird nicht nur die Forderung nach mehr kommunaler Selbstverwaltung erhoben, sondern mit der Übernahme eines Ratsmandats bereits gelebt.
In diesem Freiheitskampf geht es nicht darum, einen neuen Ismus zu erfinden, es geht nicht um Lokalismus oder ähnliches, es geht nicht darum, jedem Dorf eine Gesetzgebungskompetenz zu geben. Die Menschen vor Ort brauchen mehr Mitspracherechte bei Großprojekten, mehr Kompetenzen in der Leistungsverwaltung und im Notfall, z.B. bei offenkundigem Staatsversagen, alle Kompetenzen zur Herstellung einer zivilisierten Ordnung. Wer sich das nicht vorstellen kann, dem empfehle ich, einmal nach 22 Uhr durch das Frankfurter Bahnhofsviertel zu gehen.
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