Wer den Glauben an die repräsentative Demokratie nicht hat oder inzwischen verloren hat, muss sich die Frage nach Alternativen zur repräsentativen Demokratie stellen. Wenn wir den demokratischen Boden nicht verlassen wollen, können wir an dieser Stelle nur die Instrumente der direkten Demokratie und die Idee der Bürgerräte diskutieren.
Das Besondere an Bürgerräten ist, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip aus der Bevölkerung ausgewählt werden. Ihre Aufgabe ist es, gemeinsam Lösungen für politische Probleme vorzuschlagen. Diese Empfehlungen werden dem jeweils zuständigen Parlament oder Gemeinderat zur Beratung vorgelegt. Die vielfältige Zusammensetzung der Bürgerräte soll ihre besondere Stärke sein. Laut Homepage der Initiative für Bürgerräte zeigen Untersuchungen, dass eine Gruppe sehr unterschiedlicher Bürgerinnen und Bürger zu besseren Lösungen kommt als eine Gruppe ähnlicher Personen. Wörtlich heißt es auf der Homepage: „Unterschiedliche Lebens- und Bildungswege führen zu unterschiedlichen Perspektiven, die in einem Bürgerrat zusammenkommen. Themen werden so aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. So entstehen Lösungen auf der Basis vielfältiger Erfahrungen und Lebensumstände. In einem Bürgerrat erhalten die Teilnehmenden von Expertinnen und Experten das notwendige Wissen, um Handlungsempfehlungen zu formulieren. Sie hören Vorträge, diskutieren und können Fragen stellen. Die Gruppe der Expertinnen und Experten wird so zusammengestellt, dass sie möglichst vielfältig ist und das Für und Wider politischer Handlungsoptionen ausgewogen beleuchtet. In professionell moderierten Tischgruppen von bis zu acht Personen wird das Gehörte diskutiert. Die Tischgruppen diskutieren in einem geschützten Raum, d.h. wenn Personen aus Politik oder Medien als Beobachter anwesend sind, darf nichts nach außen dringen. So kann sich eine ehrliche und ergebnisoffene Diskussion entwickeln. Die Moderation achtet darauf, dass alle am Tisch gleichberechtigt zu Wort kommen. In den Tischgesprächen werden auch Handlungsempfehlungen entwickelt, die am Ende des Bürgerrats von allen diskutiert und abgestimmt werden. Da die Mitglieder des Bürgerrates nicht gewählt werden und somit kein Mandat aus der Bevölkerung haben, sind ihre Empfehlungen formal nicht bindend. Dennoch werden die Empfehlungen solcher Losversammlungen nicht selten bei politischen Entscheidungen von Parlamenten und Gemeinderäten berücksichtigt. Es ist auch möglich, Bürger*innenversammlungen mit verbindlichen direktdemokratischen Verfahren zu verknüpfen und allen Bürger*innen die Möglichkeit zu geben, über die Empfehlungen der Bürger*innenversammlungen in einem Volks- oder Bürgerentscheid abzustimmen“.
Der Leitfaden Bürgerversammlungen der Gruppe Extension Rebellion geht noch einen Schritt weiter: „Empfehlungen, die von der Bürgerversammlung zu einem vereinbarten Prozentsatz unterstützt werden, könnten als verbindlich behandelt werden. Die Regierung könnte sich zum Beispiel verpflichten, Empfehlungen umzusetzen, die von 80 Prozent der Versammlungsmitglieder unterstützt werden“.
Diese Aktivisten bringen auf ihrer Homepage auch am deutlichsten ihre Ablehnung der repräsentativen Demokratie zum Ausdruck: „Demokratisch gewählte Abgeordnete werden in ihrer Arbeit durch die Lobbyarbeit mächtiger Unternehmen und Interessengruppen beeinflusst. Sie streben nach wohlwollender Berichterstattung in den Medien und scheuen sich deshalb vor unpopulären, aber notwendigen Maßnahmen – aus Angst, nicht wiedergewählt zu werden, sind sie oft durch parteispezifische Abhängigkeiten in ihrer Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt. Infolgedessen sehen sich Politiker:innen oft nicht in der Lage, die weitreichenden Veränderungen umzusetzen, die nötig wären, um die Notlage in Angriff zu nehmen“.
Mit dem ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble haben die Bürgerräte einen starken Fürsprecher in Berlin gefunden. Für die drei noch ausstehenden Bürgerratsversammlungen sollen noch drei Millionen Euro Steuergelder zur Verfügung stehen (Claudine Nierth auf Utopie-Konferenz 22).
Ich denke nicht an demokratische Mitbestimmung, wenn ich den Namen Schäuble höre. Ich denke an die Schwarzgeldaffären der CDU unter der Regierung Kohl und an leere Phrasen von einer geistig-moralischen Erneuerung der Gesellschaft. Die Bürgerräte beißen nicht. Sie lenken meines Erachtens nur von der Unfähigkeit der Parteien ab, verantwortungsvolle Volksvertreter in die gewählten Volksvertretungen zu entsenden. Die Initiatoren der Bürgerräte stellen sich nicht gegen die Parteien. Aber Mitbestimmung ist ein Freiheitsrecht, und Freiheit bekommt man nicht geschenkt.
Biss bekommt die ganze Sache erst mit der Forderung, dass die Bürgerräte anstelle des Parlaments entscheiden sollen. Damit würden wir aber das Mehrheitsprinzip aufgeben und den Entscheidungen der Bürgerräte würde die notwendige Legitimation fehlen. Ohne diese Legitimation ist nicht zu erwarten, dass die Entscheidungen eines Bürgerrates die notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung finden. Ohne diese Akzeptanz können keine nachhaltigen Veränderungen erreicht werden. Die Befürchtung, dass es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen könnte, halte ich nicht für übertrieben.
Aber auch ohne das Problem der fehlenden Legitimation überzeugt mich die Behauptung nicht, dass zufällig ausgewählte Bürger bessere Entscheidungen treffen können als gewählte Volksvertreter. Ich glaube, dass die politischen Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, viel zu komplex sind, als dass wir es uns leisten könnten, auf erfahrene Volksvertreter zu verzichten. Ich glaube nicht, dass man in zwei Wochenendseminaren zufällig ausgelosten Personen fundiertes Wissen vermitteln kann. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Auswahl der begleitenden Experten und die Formulierung der Fragestellung das Ergebnis der Beratung entscheidend beeinflussen werden.
Auch den Vorschlag, die Legitimation der Entscheidungen der Bürgerräte durch anschließende Volksabstimmungen auf Bundesebene zu erreichen, halte ich für nicht zielführend, da mich schon die Forderung nach Volksabstimmungen nicht überzeugt.
Volksabstimmungen setzen immer die Formulierung einer Frage voraus, über die mit Ja oder Nein abgestimmt werden kann. Erdbeer- oder Schokoladeneis? Vanille steht nicht zur Debatte. Entscheidet sich das Volk für Schokolade, stellt sich die Frage, was mit den Erkenntnissen geschieht, die nach dieser Entscheidung gewonnen werden. Was passiert, wenn das bedingungslose Grundeinkommen nach seiner Einführung zu schweren sozialen Verwerfungen führt, die nicht vorhergesehen wurden? Was passiert, wenn sich herausstellt, dass das Gesundheitssystem in England weiter zerfällt, obwohl mit dem Brexit alles besser werden sollte? Eine einfache Rücknahme der Entscheidung ist nicht möglich, da dies zu Recht als zutiefst undemokratisch empfunden würde. Auch eine erneute Abstimmung scheidet aus, weil das Instrument des Referendums zur Farce würde, wenn so lange abgestimmt würde, bis endlich das gewünschte Ergebnis erreicht ist. Dystopie, ich hör dir trapsen. Spätestens nach dem Brexit-Desaster ist für mich die Idee einer bundesweiten Volksabstimmung so tot wie Joseph Beuys oder der Souverän nach einer Volksabstimmung.
Nur gewählte Volksvertreter sind in der Lage, einen Fehler einzugestehen und eine Entscheidung in der nächsten Sitzung zu revidieren. Gerade diese Lernfähigkeit macht die repräsentative Demokratie zur besten aller Staatsformen.
Schreibe einen Kommentar