Mich interessiert weniger, mit welchen Instrumenten heute der politische Nachwuchs gefördert wird, denn die Ergebnisse dieser Bemühungen zeigen bereits, dass sie unzureichend sind: Parlamente und Parteien, insbesondere die größeren Volksparteien, überaltern. In der Gesamtbevölkerung Deutschlands machten die 14- bis 30-Jährigen im Jahr 2021 knapp 21 Prozent aus. Bei den SPD-Mitgliedern waren es nur 8,6 Prozent, bei den Grünen 19,2 Prozent, bei der Linken 22,5 Prozent. Insgesamt lag der Anteil der 16- bis 30-Jährigen an der Bevölkerung in Deutschlang 2021 bei rund 19 Prozent, in Bayern bei 20 Prozent. Unter den Parteimitgliedern der CDU lag der Anteil dieser Altersgruppe bei 5,6 Prozent, bei der CSU bei 4,6 Prozent und bei der FDP bei 23,6 Prozent. Von der AfD lagen keine Zahlen vor (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung, 2021.)
Die bisherigen Bemühungen der politischen Nachwuchsförderung fruchten auch nicht, weil es mit ihnen nicht gelingt, das Ansehen des Berufs des Politikers entscheidend zu verbessern.
Betrachtet man die Nominierungsphase bei Kommunalwahlen, so ist unbestritten, dass die Parteien in der Kommunalpolitik die entscheidende Rolle für erfolgreiche politische Karrieren spielen, d.h. diejenigen, die eine politische Karriere anstreben oder durchlaufen, beginnen diese in der Regel in den lokalen Parteigliederungen.
Bei der Rekrutierung des kommunalpolitischen Führungspersonals haben die Parteien vor allem in Großstädten eine faktische Monopolstellung. Der Weg in die Gemeindevertretung und ihre Ausschüsse führt heute in der Regel über die Parteien. Die örtlichen Parteigliederungen […] wählen aus dem Kreis der Aktiven die Kandidaten für die Kommunalwahl aus. Die Entscheidung über die Aufstellung als Kandidat für den Gemeinderat ist dabei von größerer Bedeutung als die spätere Wahlentscheidung der Bürger (vgl. Das deutsche Gemeinderatsmitglied, 2013, S. 73).
Diese Monopolstellung führt dazu, dass wir auf kommunaler Ebene eine Schule der Demokratie haben, in der es zu wenig Nachwuchs gibt. Laut einer Studie von Björn Enger (vgl. Das deutsche Gemeinderatsmitglied, 2013, S. 57) liegt das Durchschnittsalter der 887 von ihm befragten Ratsmitglieder bei 52 Jahren. Nach Angaben dieser Ratsmitglieder sind knapp zwei Drittel aller Ratsmitglieder zwischen 46 und 65 Jahre alt, wobei der Schwerpunkt deutlich in der Altersgruppe zwischen 56 und 65 Jahren liegt. Die Altersverteilung weicht damit deutlich von der Bevölkerungsstruktur ab. Sowohl die Jüngeren als auch die Älteren sind deutlich unterrepräsentiert, während die Altersgruppen der 46- bis 55-Jährigen und insbesondere der 56- bis 65-Jährigen deutlich überrepräsentiert sind. Von den 887 befragten Ratsmitgliedern waren 6,4 % unter 35 Jahre alt. Entsprechend der Bevölkerungsstruktur hätten es 25,7 % sein müssen.
Wie groß das Defizit genau ist, scheint kaum jemanden zu interessieren. Die Ergebnisse der Enger-Befragung stehen unter der Überschrift “Das Ratsmitglied, das unbekannte Wesen”. Vielleicht ist das Desinteresse der Wissenschaft an der Kommunalpolitik auch eine Folge des ländlichen Fluchtverhaltens junger Menschen nach dem Schulabschluss.
Thomas Leif spricht in seinem Buch „Die Parteien in der Nachwuchsfalle“ von den Schleusenwärtern der Macht. Auch wenn empirische Daten und systematische Erkenntnisse fehlten, könne nicht bezweifelt werden, dass die Aufstellung der Direktkandidaten eine sorgsam gehütete Domäne der Parteiführungen in den Orts- und Kreisverbänden sei. Von der Fähigkeit der Entscheidungsträger, geeignete Kandidaten auszuwählen, könne nicht ohne weiteres ausgegangen werden, da sie eher Wohlverhalten, Linientreue und Anpassungsfähigkeit belohnten. Sachkompetenz, Effizienz und Durchsetzungsvermögen werden dagegen weniger berücksichtigt.
Das Schleusen zur Macht beginnt meines Erachtens aber nicht erst mit der Auswahl der Direktkandidaten bei einer Landtags- oder Bundestagswahl. Das Schleusen zur Macht beginnt schon bei der Wahl der Schleusenwärter, wenn es also um die Aufstellung der Kandidaten für den Stadtrat oder den Kreistag geht, wenn also die Schleusenwärter über die Mandate der Schleusenwärter entscheiden. Das ist der Flaschenhals. Hier entscheidet sich, wer in den Vertretungsversammlungen unserer demokratischen Institutionen erste politische Erfahrungen sammeln darf und durch erfolgreiche Partizipation geprägt wird.
Wir erwarten, dass ausgerechnet die lokalen Platzhirsche den politischen Nachwuchs motivieren, ihnen Konkurrenz zu machen. Die durchschnittliche Dauer der Parteimitgliedschaft bis zum Einzug in den Gemeinderat beträgt in NRW sage und schreibe 13,4 Jahre (vgl. Das deutsche Gemeinderatsmitglied, 2013, S. 74). Das ist viel zu lang.
An dieser Stelle erlaubt sich unsere Gesellschaft, die politischen Parteien mit der Aufgabe der Nachwuchsförderung weitgehend allein zu lassen, obwohl Parteien Konkurrenzgemeinschaften und keine Fördervereine sind. Die Parteien vor Ort sind mit dieser Aufgabe konzeptionell und personell überfordert. Vielleicht verbirgt sich hier ein systematischer Fehler in der Konstruktion unserer Demokratie? Vielleicht liegt hier eine Ursache dafür, dass zu wenige Menschen den Wunsch und die Fähigkeit entwickeln, als Mandatsträger in einem demokratischen Staat Verantwortung zu übernehmen, und dass die Gesellschaft den Respekt vor den Menschen verliert, die sich dieser schwierigen Aufgabe stellen? Vielleicht ist die mangelnde Transparenz in der Nachwuchsförderung ein Grund für das Misstrauen gegenüber unseren Volksvertretern? Und umgekehrt: Vielleicht ist die mangelnde Wertschätzung der Grund dafür, dass Volksvertreter lieber Meinungsumfragen folgen als ihrem Gewissen?
Warum wir allein die Parteien für die Nachwuchsförderung verantwortlich machen, kann ich mir nur mit einer vermeintlichen Annexkompetenz erklären. Weil es die Parteien sind, aus deren Reihen öffentliche Ämter besetzt werden, glauben wir offenbar, dass die Parteien, die für den Output zuständig sind, auch für den Input zuständig sein müssen. An eine Institution, die parteiunabhängig den Input in die Parteien fördert, hat noch niemand gedacht.
Obwohl das Interesse an einer Mitarbeit in einer Partei bei jungen Menschen nicht sehr ausgeprägt ist, halten die ersten Ansprechpartner vor Ort die Tür von innen zu, aus Absicht oder Unfähigkeit. Manche sprechen von einer guten Vernetzung der Parteimitglieder, ich nenne es Verkrustung.
Da diese Beiträge kein wissenschaftliches Werk sind, erlaube ich mir in diesem Zusammenhang auf Anekdoten zurückzugreifen. So erzählt die Autorin Diana Kinnert in ihrem Buch “Für die Zukunft seh’ ich schwarz” von ihrer Politisierung und ihrem Weg zur CDU. Nachdem sie im Alter von 17 Jahren versucht hatte, über den Besuch einer Fraktionssitzung der CDU im Wuppertaler Rathaus erste Kontakte zur Partei zu knüpfen, wurde sie nach drei Besuchen von Kreisverbandssitzungen endlich vom Vorsitzenden wahrgenommen. Frau Kinnert dachte an eine persönliche Ansprache, als der Vorsitzende sie gegen Ende der Sitzung zu sich winkte. Stattdessen versuchte er, bei ihr ein Bier zu bestellen.
Auf die Frage von Thomas Leif, abgedruckt in seinem Buch “Angepasst und ausgebrannt, Parteien in der Nachwuchsfalle (Juni 2009): Wo sehen Sie Defizite in der Rekrutierung des politischen Personals, antwortete Christian Wulff, damals noch niedersächsischer Ministerpräsident: “Es wird sicher zu wenig auf die große Bandbreite von Qualifikationen, Generationen und Berufsgruppen geachtet. Es gibt auch einen Mangel an Menschen mit Immigrationshintergrund. … Die ständige Suche nach interessanten Persönlichkeiten und neuen Mitgliedern oder auch nach parteilosen Mitstreitern auf kommunaler Ebene ist häufig nicht genügend ausgeprägt. Manchmal hat das auch damit zu tun, dass man sich so die Konkurrenz vom Hals halten will. Es gibt Verbände, die auf Bürgerversammlungen aktiv dazu aufrufen, auf den Listen der CDU für das nächste Kommunalparlament zu kandidieren und die Listen zu erweitern; in anderen Bereichen nutzt man die Plätze bei Kommunalwahllisten nicht einmal aus, um die Wahl bestimmter Kommunalpolitiker in den Gemeinden nicht zu gefährden, oder stellt die Listen so schnell und unauffällig auf, dass manche von der Aufstellung erst erfahren, wenn diese bereits erfolgt ist.”
Aber nicht nur in der CDU gibt es Probleme auf der lokalen Ebene bei der Förderung des politischen Nachwuchs. Nicht selten erhielt ich von jungen Aktivisten auf meine Frage, wie sie den Weg zu den Grünen gefunden haben, die Antwort, dass ihre Eltern bereits in der Partei engagiert gewesen sind. Es kommt sogar vor, dass die Grünen ihre Ratssitze quasi vererben. Die Frage, warum Jugendliche es bei den Ortsverbandssitzungen nur aushalten, wenn Mami und Papi mit am Tisch sitzen, stellt sich von den stolzen Eltern keiner.
Gerade bei den Grünen habe ich Zweifel, ob die politische Nachwuchsförderung auf dem richtigen Weg ist. Die Qualität eines Berufspolitikers zu beurteilen ist eine höchst subjektive Sache. Allerdings empfinde ich es als Zumutung, wenn eine politische Partei sich zur Volkspartei entwickeln will und gleichzeitig Bundesvorsitzende produziert, die über keinen Berufsabschluss verfügen. Wird wirklich erwartet, dass sich eine Mehrheit der Bevölkerung in schwierigen Zeiten hinter so einer Person versammelt?
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