Von Utopia nach Realia
von Stefan Ott
Ich wurde 1966 als jüngstes von drei Kindern geboren. Mein Vater war selbstständiger Furnierhändler und meine Mutter gelernte Schneiderin. Sie hat sich um uns Kinder und den Haushalt gekümmert. Wir wohnten in einem Einfamilienhaus mit Swimmingpool im Garten und einem Mercedes vor der Tür.
Das Haus steht in Bad Oeynhausen. Bis 2018 war der Kurort in Ostwestfalen mit seinen 50.000 Einwohnern sehr bekannt. Nicht wegen seiner Heilquellen, sondern wegen seiner sechs Ampelkreuzungen, die den ansonsten kreuzungsfreien Verkehr zwischen Rotterdam und Warschau täglich zum Erliegen brachten, war Bad Oeynhausen vielen aus dem Verkehrsfunk bekannt. Das änderte sich erst, als nach 42 Jahren Planung und gegen den ebenso langen Widerstand der Bürger im Norden der Stadt 2018 die Nordumgehung eröffnet wurde.
Trotz einer Lese- und Rechtschreibschwäche wechselte ich, wie meine Geschwister vor mir, nach der Grundschule auf das Gymnasium. Als Klassensprecher durfte ich an den Sitzungen der Schülervertretung teilnehmen. Mit 13 Jahren wurde ich zum stellvertretenden Schülersprecher gewählt. Der Schülersprecher selbst war Mitglied der SDAJ, der Jugendorganisation der DKP. Vom real existierenden Sozialismus hatte ich keine Ahnung und als Proletarierkind ging ich auch nicht durch. Trotzdem war ich damals der Meinung, dass die Russen in Afghanistan keinen Krieg führen, sondern ihrem Brudervolk zu Hilfe kommen, dass die Atomraketen im Osten im Gegensatz zu den Pershing II im Westen notwendig sind und dass die Atomkraftwerke in Ostdeutschland sicherer sind als die im Westen, weil sie dem Volk gehören.
Diese Phase, die knapp zwei Jahre dauerte, endete etwa zeitgleich mit dem Abitur des ersten Schülersprechers und dem der anderen Mitglieder der Schülervertretung. Ich bin in dieser Zeit einmal sitzen geblieben und habe ein Jahr “freiwillig” wiederholt. Ich war in der achten Klasse, als die frisch gebackenen Abiturienten in den Pausen nicht mehr in die Raucherecke kamen und ich auch beschloss, mit der Schule fertig zu sein.
Mit sechzehn Jahren habe ich ein Bioladen-Kollektiv gegründet. Unterstützt wurden wir von meinen Eltern und von Rudolf, der in der Nachbarstadt den Bioladen “Regenwurm” betrieb. Rudolf servierte mir die erste Linsensuppe ohne Wursteinlage und wurde mein neues Vorbild. Von da an bin ich drei Jahre lang mit “Wurzelwicht” ans Telefon gegangen.
Bei unseren Lieferanten konnte ich eine Ausbildung zum Naturkostfachverkäufer machen, ohne meinen eigenen Laden verlassen zu müssen. Durch die vielen Kontakte über die Ladentheke entstand die Idee, für die Grünen bei den Kommunalwahlen in NRW zu kandidieren. Zusammen mit meinen Freunden, einigen Kunden und den Gegnern der Nordumgehung stellten wir eine grüne Wahlliste für die Kommunalwahl 1984 auf.
Das erste Mal, dass ich wählen durfte, wählte ich mich als Spitzenkandidaten der Grünen bei einer Kommunalwahl selbst. Weil die Grünen bereits 1983 im Bundestag waren, brauchten wir bei der Kommunalwahl 1984 in NRW keine Unterstützungsunterschriften sammeln, um zur Wahl zugelassen zu werden. Es reichte zu sagen, wir sind die Grünen vor Ort. Wir waren die Ersten und es gab niemanden, der das Gegenteil behaupten konnte. Als ich beschloss, aktiver Demokrat zu werden, stand in meiner Stadt ein leerer Zug bereit, und die ersten Gleise für die Reise durch die Institutionen waren bereits gelegt. Wir mussten uns keine Sorgen machen, an der 5%-Hürde zu scheitern. Der Zug hatte genug Dampf und den Wählern war es egal, wer einsteigen würde. Sie wählten die Grünen, die sie aus dem Fernsehen kannten, auch wenn bei den Kommunalwahlen keiner von ihnen antrat.
Aber auch thematisch gab es viel Raum. Obwohl spätestens seit der Veröffentlichung des Berichts des Club of Rome zur Lage der Menschheit “Die Grenzen des Wachstums” im Jahr 1972 jeder wissen konnte, dass wir auf eine ökologische Katastrophe zusteuern, interessierten sich die Altparteien kaum für dieses zentrale Thema. Das Thema offenbarte eine riesige Lücke im Parteiensystem, die die Grünen geschlossen haben.
Nach dem Einzug ins Rathaus gehörten zu meiner neuen „Peergroup“ Türen-Rohlfing, Tapeten-Seeger, Rechtsanwalt Grohmann, Stadtdirektor Möllenhoff, AOK-Spilker und Schulleiter Böcke. Wir Grünen haben AOK-Spilker von der SPD zum Bürgermeister gewählt und als wichtigste Gegenleistung hat sich der Rat mehrheitlich von der Planung der Nordumgehung verabschiedet. Ich trage also eine Mitverantwortung für die lange Planungsphase der Nordumgehung und für die vielen Staus auf der Autobahn mitten durch Bad Oeynhausen. Dafür schäme ich mich nicht, im Gegenteil.
Weil in fast allen Diskussionen die Juristen das letzte Wort hatten, habe ich mich entschlossen, über den zweiten Bildungsweg das Abitur nachzuholen und Jura zu studieren. Ich kann mir keine Gedichte merken und, was noch schlimmer ist, kaum Namen. Sprache ist also nicht meine Stärke. Ich habe auch kein Verständnis für Mathematik und bin leider auch völlig unmusikalisch. Leider muss ich auch zugeben, dass ich nicht gerne lese. Trotzdem hat es für zwei befriedigende Staatsexamina gereicht, obwohl das Jurastudium als echtes Fleißstudium mit viel Auswendiglernen gilt. Ich kann mir meine erfolgreichen Abschlussprüfungen nur damit erklären, dass das vierjährige „Praktikum“ als Ratsmitglied der wichtigste Teil meines Jurastudiums war.
Nach dem Studium in Göttingen und Bielefeld kehrte ich in meine Heimatstadt zurück und hoffte, mit Unterstützung der Grünen Bürgermeister werden zu können. Bis es soweit war, ließ ich mich als selbständiger Rechtsanwalt in Bad Oeynhausen nieder.
Ich habe die Fachanwaltslehrgänge für Versicherungsrecht und Sozialrecht absolviert.
Als die Unterstützung der Grünen ausblieb, entschied ich mich 2015 aus der Partei auszutreten und als parteiunabhängiger Bürgermeisterkandidat anzutreten. Mit 22% schied ich im ersten Wahlgang aus.
Im Jahr 2015 gründete ich den Verein Junge Ratsmitglieder e.V (JURATS). Ziel des Vereins ist es, junge Menschen (U25) bei ihrer Kandidatur für den Stadtrat zu unterstützen. Mit der Ortsgruppe von Fridays for Future in Kempten ist es gelungen, bei den Kommunalwahlen 2020 in Bayern eine Wählerliste aufzustellen und zwei Jugendlichen den Weg in den Stadtrat zu ebnen. In der Satzung der Wählervereinigung “Future for Kempten“ ist das Rotationsprinzip verankert. Die beiden erfolgreichen Kandidaten wollen sich rechtzeitig um geeignete Nachfolger (U25) für die nächste Kommunalwahl kümmern. Wenn sie klug sind, werden es vielleicht zwei junge Frauen sein oder zwei Personen, die nicht aus dem klassischen Bildungsbürgertum kommen.
Auf der Utopiekonferenz 2022 in Lüneburg hatte ich die Gelegenheit, mit Richard David Precht und der Transformationsforscherin Maja Göpel zu sprechen. Von Herrn Precht und dem Organisator der Konferenz, Herrn Sven Prien-Ribcke, wurde mir in Aussicht gestellt, die Arbeit meines Vereins bei der nächsten Utopie-Konferenz im Rahmen eines Workshops vorstellen zu dürfen.
Auf der Konferenz habe ich auch den jungen Physikstudenten Mathias Wirtz kennen gelernt, der die Idee JURATS gut findet und mit uns in seiner Heimatstadt Hilden in die Praxis umsetzen will (s. Aktuelles).
Daraufhin habe ich mich entschlossen, meinen Beruf als Rechtsanwalt 2023 aufzugeben oder zumindest auf ein Minimum zu reduzieren. Künftig möchte ich Ratssitze in Ausbildungsplätze für junge Menschen umwandeln. Davon kann man auch leben, wenn es gut läuft. Dieses finanzielle Risiko kann ich mir leisten, weil ich keine leiblichen Kinder habe.
Zurzeit arbeiten wir also an der Kampagne 100U25NRW2025. Dabei geht es darum, 100 junge Menschen zu motivieren, bei der Kommunalwahl 2025 in Nordrhein-Westfalen für ihren Stadtrat zu kandidieren. Die gewählten Ratsmitglieder möchten wir vernetzen und bei der Gründung einer Schule der Demokratie unterstützen.
Mir hat das Leben eine Perspektive eröffnet, die in keinem Buch steht und die viele kluge Leute nicht kennen gelernt haben, weil sie es nach dem Abitur furchtbar eilig hatten, so schnell wie möglich nach Berlin, Köln, Hamburg oder in irgendeine andere Metropole zu ziehen. Ich durfte erfahren, dass die Teilnahme an der politischen Willensbildung auf kommunaler Ebene ein einzigartiges, unglaublich spannendes und umfangreiches Bildungsangebot beinhaltet. Nirgendwo kann man schneller und besser für das Leben lernen. Vergleicht man die Situation eines Praktikanten in einem großen Unternehmen mit der eines Ratsmitglieds in einer kleinen Stadt, wird schnell klar, wo die größeren Herausforderungen liegen, an denen man wachsen kann. Als Ratsmitglied ist man ein weisungsfreies, stimmberechtigtes Mitglied in der Schaltzentrale eines öffentlichen “Unternehmens”, das sich mit allen Fragen des gesellschaftlichen Lebens auseinandersetzen muss. Ich glaube, dass wir mit dieser Sicht auf Amt und Mandat das Interesse junger Menschen an den Institutionen unseres Staates deutlich steigern können.
Der Demokratie ist es egal, ob ein Diktator Partizipation unterdrückt oder ob aus anderen Gründen kein Interesse an Partizipation besteht. In beiden Fällen ist die Demokratie abwesend. Wer von einer Teilhaberevolution träumt, muss sich zuerst fragen, wer überhaupt Lust und Zeit hat, Partizipation zu praktizieren.
Aber das Angebot “learning by doing” allein wird nicht ausreichen, um junge Menschen, die die Welt verändern wollen, davon zu überzeugen, nach dem Schulabschluss nicht gleich das Weite zu suchen, sondern noch eine Wahlperiode in ihrer Heimatstadt zu bleiben. Es muss auch ein “doing by learning” geben.
Damit ein „doing by learning“ vorstellbar wird, müssen wir unsere politischen Utopien auf die kommunale Ebene herunterbrechen und beschreiben, wie ihre kommunale Verwaltung aussehen könnte, welche staatlichen Ebenen zugunsten der Kommunen Kompetenzen abgeben müssten und ob dieser Schritt experimentell möglich ist. Das ist der Weg von der Utopie zur Realität, weil er nicht nur konkrete Handlungsschritte aufzeigt, sondern auch die Menschen benennt, die diesen Weg motiviert gehen wollen.
Davon handeln die Beiträge mit Datum 01.05.2023. Es sind keine wissenschaftlichen Abhandlungen. Es handelt von den ersten konkreten Schritten, die wir heute gehen können, um uns als Demokraten experimentell aus einer Schockstarre zu befreien, in die uns scheinbar unlösbare politische Krisen getrieben haben. Es ist eine Einladung an alle, an der Bildung einer neuen demokratischen Institution mitzuwirken: der Schule der Demokratie.
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